Samstag, 27. Juli 2013

Geschichten aus der Kindheit 1: Janosch - Die Geschichte von der Grille und dem Maulwurf



Justitia ist blind..

Eine Grille hatte den ganzen Sommer über nichts anderes getan, als auf ihrer Geige gefiedelt, weil ihr das so gut gefiel. Und als dann der Winter kam, hatte sie nichts zu essen, denn sie hatte das Feld nicht bestellt, also auch keine Ernte. Sie hatte keine Vorräte gesammelt. Hatte auch kein Winterhaus gebaut, mit Ofen.

Da ging sie zum Hirschkäfer. Der Hirschkäfer war der Oberförster vom Mossgestrüpp.
Ein Oberförster muss zu den anderen Tieren gut sein und ihnen in der Not helfen.
„Könnte ich bei Ihnen vorübergehend wohnen?“, fragte die Grille, „nur für einen Winter, denn ich habe vergessen…“

„Oh, vergessen“, giftete der Hirschkäfer, „vergessen! Ja, ja, das kennen wir.
Erst den ganzen Sommer nutzlos rumfiedeln und dann auf anderer Leute Kosten leben. Nein, nein, Mariechen, das geht nicht!“

Da ging die Grille mit ihrer kleinen Geige weiter und kam zu der Maus.
Die Maus wohnte in einer verbeulten Gießkanne. Die Maus hatte so viele Vorräte für den Winter gesammelt, dass diese für drei Winter gereicht hätten. Und zwar für zwei Personen.

„Nur vorübergehend!“, sagte die Grille, „für einen Winter nur, wenn Sie gestatten würden. Ich habe nämlich vergessen…“
„Oh, vergessen“ sagte die Maus, „vergessen! Ja, ja, das kennt man. Den ganzen Sommer lang herumfiedeln und nicht arbeiten und dann auf anderer Leute Kosten leben wollen. Nein, nein, Mariechen, da wird leider nichts draus.“

Da ging die Grille mit ihrer kleinen Geige weiter und kam zum alten Maulwurf, der in einer Kellerwohnung wohnte. Mit Ofen.

„Oh, Besuch“, rief der alte Maulwurf. „Kommen Sie doch bitte mal näher. Kann nämlich nicht gut sehen, bin etwas kurzsichtig auf den Augen, weil ich fast blind bin. Kommt von der Dunkelheit unter der Erde, wo ich arbeite. Macht aber nix.“
Als er die Grille erkannte, freute er sich, denn er hatte im Sommer oft ihrem Gefiedel gelauscht.
 
Wer schlecht sieht, der hört gern zu, wenn einer Musik spielt. „Spiel doch mal was auf der Geige, Du!“, sagte der Maulwurf.
Und die Grille fiedelte und geigte und der Ofen bollerte.
Im Topf roch die Suppe und so verging ihnen der Winter wie ein Tag.
Es war ein schöner Winter für die beiden, wohl der schönste ihres Lebens.“


In jedem von uns sollte doch ein kleiner, blinder Maulwurf stecken, der seine Mitmenschen nicht nach dem Aussehen oder dem sozialen  Stand beurteilt. Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft sind Eigenschaften, die ich in der heutigen Zeit oft vermisse. Doch diese liebevoll gestaltete Geschichte lässt mich auch an schöne und freudige Ereignisse zurückdenken, in denen der Maulwurf im Menschen zum Vorschein gekommen ist :)
                                             

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